Dieser Fund vom Archäologenpaar Efi und Jannis Sakellarakis im Jahr 1979 sorgte für enormes Aufsehen. Das Bild von den friedlichen Minoern geriet mit einem Schlag ins Wanken:
Eine der bedeutendsten Stellen im Gebiet von Archanes ist Anemospilia. An dieser Stelle, die von den Einheimischen wegen des benachbarten Hügels, der voller Windhöhlen ist, sehr treffend so bezeichnet wird, entdeckten J. und E. Sakellarakis 1979 den ersten unabhängigen Tempel auf der insel, der als einer der wichtigsten des minoischen Kreta gilt.
Anemospilia liegt genau am Kreuzungspunkt zweier antiker Strassen. Er gewährt dem Besucher einen wunderbaren Ausblick auf den Dikti im Osten und den Ida im Westen, sowie auf die Zentren an der Nordküste, auf Knossos und die unendliche Ägäis.
…Am eindrucksvollsten aber ist nicht die Konstruktion des Baus selbst, sondern seine Anlage und Integration in das ihn umgebende Gelände. Es handelt sich um ein rechteckiges Gebäude mit drei gleich grossen, geschlossenen Räumen im Süden sowie einem langen Korridor im Norden. Diese einfache Symmetrie des Grundrisses ist aussergewöhnlich für die minoische Architektur, die eher durch ihre komplizierten Konstruktionen charakteristisch ist…
Es ist offensichtlich, dass der alleinstehende Bau in Anemospilia alle Elemente eines Temenos und eines Tempels besitzt, so wie sie in ausgebildeter Form von den griechischen Heiligtümern späterer Epochen oder den mit dem minoischen Kreta zeitgleichen Kulturen Zyperns, des Orients und Ägyptens bekannt sind…
Der mittlere Raum war mit den grössten Gegenständen des Tempels vollgestopft… Hier kam ein besonders bedeutender Fund ans Licht: ein Paar überlebensgrosse Füsse aus Ton… Diese waren von einer dicken Ascheschicht aus verbranntem Holz umgeben, die eine Untersuchung und endgültige Interpretation des Fundes ermöglichte.
Ähnliche Füsse wurden bereits an anderen Stellen auf Kreta gefunden… Alle Räume, in denen solche Füsse gefunden wurden, enthielten rituelle Gegenstände… Bei den Füssen von Archanes sind wichtige Konstruktionselemente erhalten, die auf ihre Verwendung hinweisen: ihr oberer Teil ist als Zapfen gearbeitet, um in einen Holzrumpf eingesteckt zu werden. Es ist interessant, diese Füsse mit denen zu vergleichen, die unter den Röcken der Tonidole weiblicher Gottheiten aus dem subminoischen Tempel in Karli hervorschauen. Wie bei jenen Göttinnen dürften auch die Füsse von Archanes unter dem Gewand hervorgeschaut haben, das den Holzrumpf bedeckte… Es scheint also, dass es im minoischen Kreta grosse Kultbilder vom Typus des Xoanon gegeben hat. Es ist kein Zufall, dass bei Pausanias Xoanon mit dem Kreter Daidalos in Verbindung gebracht wird…
Bei der Ausgrabung wurde festgestellt, dass ein Erdbeben die einzig mögliche Erklärung für die Zerstörung des Tempels sein konnte und das die aus grossen, gut bearbeiteten Steinen gebauten Mauern niederriss. Die Art und Weise des Falls sowie die Fallrichtung der Steine lassen keinen Zweifel daran. Alle Gegenstände scheinen umgefallen zu sein, wobei keine Spuren anderer gewalttätiger Eingriffe festgestellt werden konnten. Gemäss der vorherrschenden Ansicht gab es solche Eingriffe aufgrund der Pax Minoica, des berühmten Minoischen Friedens, der auf Kreta herrschte, auch gar nicht. Das Feuer der Lampen, die gefunden wurden und die den Tempel erleuchteten, vollendete das zerstörerische Werk des verheerenden Erdbebens – so wurden dann auch das Holz des Xoanon, die Regale und das Holzwerk des Gebäudes zerstört.
…Dieser Befund überbrückt auch viele zeitliche Lücken, die zwischen der alten, nicht gut stratifizierten Ausgrabung von Knossos und den letzten Ausgrabungen in Phaistos bestanden. Die chronologischen Folgerungen aus dem geschlossenen Fund des Tempels in Anemospilia sind interessant, denn der Tempel wurde nur in einer chronologischen Phase genutzt, und dann nie wieder. Seine Nutzung erstreckt sich somit auf die wenigen Jahrzehnte, die zwischen seinem Bau und seiner Zerstörung liegen.
Die Erdbebenkatastrophe wird aber auch durch einen weiteren Fund bestätigt, der zwischen der Tür des mittleren Raumes und jener der Eingangshalle gemacht wurde. Hier wurden unter den Trümmern die Reste eines menschlichen Skeletts gefunden. Der Zustand der Relikte liess keine Bestimmung des Geschlechts oder des Alters zu. Es ist aber sicher, dass diese Person, als sie den mittleren Raum verliess, bäuchlings hinfiel und unter die fallenden Steine begraben wurde. An der Rückseite des besser erhaltenen Schienbeins wurden Verletzungen festgestellt, die diese Annahme bestätigten…
…Im Westraum selbst gab es nur wenig Funde. Es wurden aber Informationen gewonnen, die dazu führten, dass der Fund des Tempels von Anemospilia zu den bedeutendsten und darum auch bekanntesten Funden gezählt wird, die je auf Kreta gemacht wurden. Denn unter den Steinen, die beim Zusammenstürzen der Wände herabfielen, fand man drei weitere menschliche Skelette, die in keinerlei Zusammenhang mit anderen, bisher auf minoischen Friedhöfen gefundenen Skeletten zu bringen sind. Wie sogleich aufgezeigt werden wird, waren die Todesumstände dieser Personen so ungewöhnlich, dass sich verschiedene Spezialisten damit beschäftigten – nicht nur Anthropologen, sondern auch Gerichtsmediziner.
In der Südwestecke des Raumes fand man das Skelett einer Person in Bauchlage mit der rechten Hand am Kopf und gespreizten Beinen. Es handelt sich um eine etwa 28-jährige Frau mit einer Grösse von 1,54 m. Einige Meter nördlich wurde ein zweites Skelett in einer noch ungewöhnlicheren Stellung gefunden; die Person war auf den Rücken gefallen, mit ausgestrecktem rechten Bein und angewinkeltem linken. Ihre beiden Arme waren zum Brustbein hin angewinkelt. Es handelt sich um einen Mann im Alter von ungefähr 38 Jahren, der 1,78 m gross war. Er war äusserst zart gebaut, überaus gesund und in biologisch guter Konstitution. Von den Gerichtsmedizinern wird seine Stellung “Boxerposition” genannt. Sie ist charakteristisch für Personen, denen eine Last auf den Kopf fällt: sie setzen einen Fuss nach hinten und reissen die Arme hoch, um den Kopf zu schützen. Die besonders angespannte Boxerstellung des Skeletts ist durch das Feuer zu erklären, das “aufgrund des Überwiegens der Beugemuskeln gegenüber den Streckmuskeln” zu einer Verkrampfung und Krümmung der Arme führte. Als Todesursache dieser beiden Personen sowie auch der im Korridor gefundenen kann der Fall der Steine und Hölzer des Daches sowie die Feuersbrunst angenommen werden, bei der sich an einigen Stellen Temperaturen von 300-500 Grad entwickelten, da bei einigen Zähnen der Zahnschmelz zersprungen war.
Bei dem Skelett des grossen Mannes sind glücklicherweise einige Belege seiner Identität erhalten geblieben. An der linken Hand trug er einen mit Eisen umwandelten Silberring, vermutlich ein Siegelring. Es handelt sich um einen äusserst wertvollen Gegenstand, war doch Eisen im 17. Jh. v. Chr. das kostbarste Metall, weshalb man es auch miT Silber ummantelte. Es ist vielleicht interessant festzuhalten, dass solche Gegenstände in späterer Zeit nurmehr in Königsgräbern anzutreffen sind.
Neben den oben erwähnten wurde noch ein vierter Toter im Westraum des Tempels gefunden, der aus vielen Gründen der interessanteste ist. Dieser Tote unterscheidet sich von den beiden anderen, die im selben Raum gefunden wurden, aber auch vom dritten im Vorraum. Erstens befand er sich nicht auf dem Boden, sondern auf einer tischähnlichen Konstruktion, zweitens war er nicht der Länge nach hingefallen, wie die anderen, sondern befand sich in einer eigentümlichen Stellung, und drittens wurde auf seinem Körper eine einzigartige Bronzewaffe gefunden. Dies zeigt, wie gleich nachgewiesen werden soll, dass die ursache seines Todes eine andere gewesen war.
Das Skelett wurde in diagonaler Schräglage und rechtsneigung sowie mit dem Gesicht nach Osten auf dem Altar gefunden. Sein Kopf befand sich in der südöstlichen Ecke des Podests und seine Beine waren gebeugt. Auf seinem Bauch lag in schräger Position die riesige Waffe. Im Gegensatz zu den beiden anderen Toten im selben Raum war dieses Skelett leicht gestört, da offensichtlich die Holzfläche, auf der er lag, verbrannt war.
Die 40 cm lange Bronzewaffe gehört einem sehr seltenen Typus an. sie hatte einen kurzen Griff und zwei Löcher in der Mitte. Früher wurden die wenigen bekannten Waffen dieser Art Messer genannt. Neuere Untersuchungen schliessen aber nicht aus, dass dieser Typus zu den Lanzen gehört…
Aufgrund dieser Elemente, die das vierte Skelett von den anderen unterscheiden, darf man annehmen, dass die Todesursache dieser Person nicht wie bei den anderen, das Erdbeben war. Und besonders in diesem Fall war die Hilfe der Anthropologen und Gerichtsmediziner, die auf ungewöhnliche Todesursachen spezialisiert sind, von unschätzbarem Wert. Einige zusätzliche Beobachtungen, die gemacht wurden, sind erwähnenswert. Es scheint, dass die Beine des Toten gefesselt waren. Deswegen berührt eine Ferse einen Oberschenkel. Aber noch wichtiger ist, dass, wie die unterschiedliche Färbung der linken Skeletthälfte im Gegensatz zur rechten zeigt, der Tote, ein etwa 18-jähriger Mann mit einer Grösse von 1,65 m, sein Blut verloren haben muss, während er noch am Leben war. Es handelt sich somit um ein Menschenopfer.
Diese Expertise der Gerichtsmediziner ist die einzige Erklärung, die mit allen Daten dieses Fundes vollkommen übereinstimmt. Den Gerichtsmedizinern zufolge war die Todesursache eine Wunde, die dem Toten mit der Waffe an der linken Seite des Halses, an der hervorstehenden Halsschlagader zugefügt worden war, von wo auch das meiste Blut fliesst, wie die Minoer von den Stieropfern her wussten. Die Person, die das Opfer ausführte, kann der Priester gewesen sein, der ein Rechtshänder war. Er stand hinter dem Opfer und führte zwei aufeinanderfolgende Bewegungen aus. Die eine Bewegung war der Stoss, die zweite das Ablegen der Waffe von rechts nach links. Unzweifelhaft begann das Erdbeben nach dem Vollzug der Opferhandlung und vor der Entfernung des Opfers vom Altar. Das Blut, das in den Eimern aufgefangen worden war, war bereits dem Kultbild dargebracht worden, wie die Eimer im mittleren Raum zeigen…
Für das minoische Kreta sind Tieropfer, mit dem Stieropfer als dem bedeutendsten, bekannt. Da das spezielle Gefäss für Blut mit dem Bild eines Stieres geschmückt war, kann man davon ausgehen, dass diese auch in Anemospilia üblicherweise vollzogen wurden. Aber auch hier gehen die Menschen für das Wohl der Allgemeinheit, zur Rettung vor der drohenden Katastrophe, bis zum Äussersten. Zu dem Zeitpunkt, als die Bewohner die Häuser verlassen, um der Erdbebenkatastrophe zu entkommen, verbleibt die Priesterschaft im Tempel, um das Menschenopfer zu vollziehen; die äusserste, wenn auch vergebliche Opfergabe.
Sicherlich stellt das Menschenopfer von Archanes keine gewöhnliche Praxis im minoischen Kreta dar, sondern eine seltene Zeremonie. Zudem fand es nicht öffentlich, unter freiem Himmel statt, sondern im Geheimen. Und darum zerstört das Menschenopfer in Anemospilia auch nicht das bekannte Bild natürlicher Ordnung und Ruhe Ordnung und Ruhe, das im minoischen Kreta geherrscht hat.
Quelle: “Archanes” von J. und E. Sakellarakis, erschienen 1991 Ekdotike Athinon in dt/e/gr.
Kannibalismus?
Ansonsten gibt es nur noch einen Hinweis auf Menschenopfer in minoischer Zeit: In einem Haus in der Siedlung von Knossos wurden Kinderknochen ausgegraben, die Messerspuren aufweisen. Kannibalismus wäre eine mögliche Deutung, insgesamt halten sich Wissenschaftler aber mit Interpretationen sehr zurück. Sollte der Tote von Anemospilia tatsächlich einst blutig geopfert worden sein, dann offenbar nicht im Rahmen einer alltäglichen Praxis. Verlangte eine extreme Gefahr eine extreme Lösung?
Hatten die Menschen in Angst und Panik vor den seit Tagen anhaltenden Erdbeben den Priester angefleht, die Götter milde zu stimmen, ihren Zorn zu besänftigen, vielleicht eine
Schuld zu sühnen? Was aber gibt es Kostbareres als das Leben eines Menschen? Freiwillig hatte sich das Opfer nicht gefunden, der Mann wurde gefesselt in den Tempel gebracht, das Ritual vollzogen. Doch das aufgefangene Blut erreichte die Götter nicht mehr. Ein neuerliches Beben erschütterte den Tempel, das Dach stürzte ein und erschlug den Priester und seine Helfer.
Quelle: Marlis Jahraus, in: Abenteuer Archäologie 5, 2007, S. 31-40
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